"Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner." (Luk. 18:10)
Ihr werdet wohl fragen, was das Erstaunliche dabei ist, wenn zwei Menschen – ein Pharisäer und der andere ein Zöllner in den Tempel hineingegangen sind! In der Tat gibt es nichts Erstaunliches für diejenigen, die die Dinge begreifen, für diejenigen aber, die sie nicht begreifen, ist alles erstaunlich. Für die jenigen, die verständig sind, ergibt alles einen Sinn, für diejenigen dagegen, die nicht verständig sind, ergibt alles keinen Sinn.
Ich möchte diese zwei Menschen – den Pharisäer und den Zöllner – zum Gegenstand meines heutigen Vortrags nehmen. Diese zwei Personen sind bekannte Vertreter einer sehr alten Kultur. Wollen wir eine Parallele zwischen ihren besonderen Eigenschaften ziehen, damit ihr über ihre Lebensweise und ihren geistigen Charakter unterrichtet seid.
Das Wort 'Pharisäer' entstammt dem jüdischen Wort 'parasch', das 'teilen' bedeutet. Es gibt noch ein arabisches Wort, 'pharsi', das derselben Wurzel entstammt und etwas in seiner Form Perfektes bedeutet; eine Sprache 'pharsi' zu sprechen heißt, diese Sprache sehr gut zu können. Christus stellt in diesem Kapitel zwei charakteristische Typen dar. Ein talentierter Maler, der mit der Menschenkunde vertraut ist, würde diese zwei Typen mit all ihren charakteristischen Zügen malen; und dieses typische Bild würde es verdienen, sich als Muster in jedem Haus zu befinden. Welche sind die augenfälligen Merkmale des Pharisäers und welche – des Zöllners? Es genügt nicht, zu sagen: "Er ist ein Pharisäer" oder: "Er ist ein Zöllner", sondern man muß die äußeren Merkmale ihrer Gesichter, ihrer Hände, ihres Körperbaus, die Beschaffenheit ihrer Köpfe kennen. Danach müssen wir die Besonderheiten ihres seelischen Vermögens aufdecken. Nur so werden wir uns die für uns in den Text hineingelegte Idee erklären und anwenden können. Christus war ein großer Künstler, er hat zwei kennzeichnende Merkmale diesen zwei Charakteren verliehen und ich möchte den Pharisäer und den Zöllner beschreiben, indem ich diese berücksichtige. Ihr werdet aber sagen: "Wie könnt ihr einen Menschen nur auf Grund einiger Wörter beschreiben, die über ihn gesagt worden sind?" Das ist aber eine Wissenschaft. Das läßt sich beschreiben. Es gibt gelehrte Leute, die sich lange Zeit mit vergleichender Anatomie beschäftigt haben; sie haben die Beschaffenheit der Tiere so gut studiert, daß, wenn man ihnen den kleinsten Teil eines vorsintflutlichen Tieres gibt, sie euch dann seine Größe beschreiben, alle seine Knochen gegenüberstellen, ihm seine Muskeln und Sehnen zuordnen können, so daß sie dann auf diese Art und Weise die verlorengegangene Lebensform wiederherstellen. Wenn ihr einem sachkundigen Botaniker nur ein Blatt von irgendeiner Pflanze zur Verfügung stellt, wird er in der Lage sein, euch den ganzen Baum zu beschreiben. Nach demselben Gesetz werde ich jetzt auch versuchen, euch den Pharisäer und den Zöllner zu beschreiben und euch zu zeigen, was für welche sie sind. Ihr werdet aber bestimmt einwenden: "Was haben diese beiden gemeinsam, die vor zweitausend Jahren gelebt haben?" Auf dieser Welt leben nur zwei Typen von Menschen – Zöllner und Pharisäer; von ihnen stammen viele andere ab; diese beide aber gelten als Grundtypen. Ihr könnt entweder dem einen oder dem anderen Typ angehören, unabhängig davon, ob ihr ein Geistlicher seid oder nicht, ob ihr ein Adliger seid oder nicht, ein Gelehrter, Philosoph, ein Mann oder eine Frau. Diese zwei Charakere sind miteinander eng verbunden und machen sich im Leben jedes einzelnen Menschen bemerkbar. Sie werden für immer die zwei Prototypen in der menschlichen Geschichte bleiben. Die Kunst Christi besteht gerade darin, daß Er sie mit sehr wenig Worten so bildhaft zu erfassen und zu schildern vermocht hat.
Äußerlich ist die Gestalt des Pharisäers allem Anschein nach anständig. Er ist ein ansehnlicher, stattlicher, schlanker und großwüchsiger Mensch, 175-180 cm groß – etwas größer als gewöhnlich. Seine Hände und Finger – länglich, der Daumen – lang und symmetrisch, was davon zeugt, daß Willen und Intelligenz präsent sind; der genauso wie der Ringfinger lange Zeigefinger zeigt, daß, wenn eine Idee in ihm entstanden ist, er sie bis zu ihrer absoluten Vollendung durchführt. Sein Verdauungssystem ist in Ordnung; was Essen und Trinken betrifft, ist er mäßig, er hat nicht die Schwächen des Vielfraßes und des Weintrinkers, sein Geschmack ist fein. Die Taille – betont schlank. Altersmäßig hat er schon die vier Lebensalter hinter sich und ist in die fünfte eingetreten, das heißt, er hat 45 Jahre vollendet. Die Schultern bei ihm sind ein bißchen rundlich, das Gesicht – ein bißchen länglich und birnenförmig, das Nervensystem ist gut entwickelt. Der Unterkiefer ist gleichmäßig geformt, das Kinn ist länglich und zugespitzt – das Kennzeichen eines flexiblen Menschenverstandes und einer guten Auffassungsgabe; der Mund – mittelgroß, die Lippen weder zu dick noch zu schmal; die Mundwinkel gehen ein bißchen nach oben, mit einem verächtlichen Lächeln, das besagt: "die Menschen – das ist ein Pöbel"; seine Verachtung äußert er aber innerlich nie. Die Augen – aschgrau; die Augenbrauen – bogenförmig, ein bißchen gebeugt wie die Äste eines alten Baumes: das ist ein Mensch, der lange lebt und über eine Lebenserfahrung verfügt. Die Stirn ist schön, ziemlich hoch, in ihrem Teil über der Nase gewölbt, was von einer starken Individualität, Beobachtungsgabe und von einem praktischen Verstand zeugt. Die Schläfenpartien sind mittelmäßig entwickelt; die Ohren sind geradförmig und dem Kopf enganliegend – ein Kennzeichen materieller Ordnung. Die Haare des Bartes sind ein bißchen spärlich und mit einer ziemlich kräftigen roten Farbe – ein Kennzeichen von Impuls und Hartnäckigkeit. Der Kopf ist kugelförmig, die Gesamtweite ringsherum über den Ohren beträgt 56-60 cm; der Scheitelbereich ist stark entwickelt und hoch – ein Kennzeichen von großer Selbstbeherrschung, Selbstachtung, Stolz, Anspruch und Eitelkeit; er hat einen religiösen Sinn, der aber einseitig entwickelt ist; die Barmherzigkeit, die er empfindet, ist nur auf ihn selbst und seine Verwandtschaft bezogen. Das Gesicht ist bei ihm ziemlich bleich, die Nase – vom griechisch-römischen Typ. Es ist ein Mensch, der von Ästhetik viel hält, jedoch einer, der keine Zuneigung zur Poesie und Dichtung, zum Erhabenen und zum Idealen hat. Dieser Mensch ist im Besitz eines starken Glaubens, aber es ist ein Glaube nur an den eigenen Verstand; seine Hoffnung ist groß, aber nur auf seine Kraft bezogen. Er ist religiös, verehrt und vergöttert aber nur sich selbst. Wenn wir seinen Tempel betreten würden, würden wir als Allererstes nicht das Bild Jesus Christi, sondern sein eigenes, und an der Stelle der Heiligen Mutter Gottes und Johannes des Täufers sowie der anderen Heiligen – die Porträts seiner Ahnen und Urahnen aufgestellt vorfinden, die er beweihräuchert und in Gebeten rühmt: "ruhmreich, groß ist unser Volk"! Er ist ein Mensch von Intelligenz, der Kenntnisse im Leben sammelt und mit der jüdischen Kabbala und den Prinzipien der damaligen Zivilisation vertraut ist, und der, lebte er in unserer Zeit, als angesehener Schriftsteller, Philosoph, Künstler, Staatsmann und geistiges Haupt gelten würde.
Warum hebt Christus diesen Typ hervor? Was gibt es Schlimmes in seinem Gebet? Beim Pharisäer merkt man eine Philosophie, die zeitlich schon überlebt ist – das ist ein Mensch, der ausschließlich in seiner Vergangenheit lebt und das Gegenwärtige und das Zukünftige verpaßt; es ist ein Mensch, der sich, einer Maid oder einem Burschen ähnlich, in sein eigenes Porträt verliebt hat, und wo immer er auch hingeht, nur dieses vor den Augen hat. Erstaunlich ist, wenn man sich in sein eigenes Bild verliebt! Ich habe einmal einen bulgarischen Schriftsteller beobachtet: er hatte sich auf einen zentralen Platz gesetzt, in seiner Nähe befand sich auch ein Spiegel; er zündete sich eine Zigarette an, wandte sich um und schaute sich dabei im Spiegel an, als wollte er zu sich selbst sagen: "Schön bin ich und ich mache auf die Leute einen Eindruck!" Dann raucht er wieder seine Zigarette und wirft sich erneut in Positur vor dem Spiegel. Wenn eines Tages dieser Spiegel in die Brüche geht, geht auch sein Glück in die Brüche. Der Pharisäer ist diesem, in sich selbst verliebten, Typ ähnlich. Und ihr könnt hören, wenn er sich an Gott wendet, mit welch 'interessanten' Worten er das tut: "Gott, ich danke Dir dafür, daß ich nicht wie die anderen Menschen bin; ich bin viel mehr". Aber seine Philosophie ist gerade an dieser Stelle falsch, denn Gott hat alle Menschen geschaffen. "Ich bin nicht wie die anderen Menschen", sagt er. Was bist du denn dann? Ob du vielleicht ein Engel bist? Nein, das bist du nicht. Du bist aus demselben Holz geschnitzt und in deinen Adern fließt dasselbe Blut wie bei den anderen auch. Er will sich selbst und Gott belügen. Das ist die erste Lüge, der er sich bedient. Und Gott sagt zu ihm: "Du sprichst nicht die Wahrheit". Die Behauptung des Pharisäers ist negativ: er vergleicht sich nicht mit denjenigen, die erhabener sind als er – die Engel, sondern mit den niederträchtigen Typen, mit den Verbrechern, indem er behauptet, er wäre nicht wie diese. Angenommen, ich vergleiche mich mit Tieren und sage folgendes: "Danke, Gott, daß ich nicht wie diese Ochsen, Esel, Hunde, Eidechsen, Schlangen bin". – Was für einen Vergleich kann man denn zwischen ihnen und mir anstellen? Es handelt sich um eine schlechte Eigenschaft, die für alle Menschen typisch ist. Vor ein paar Jahren gab es unter den Gymnasiasten und den Studenten in Bulgarien eine Modeerscheinung, das Leben der großen Dichter zu untersuchen, wie z.B. das von Shakespeare, und sich dabei dessen Schwächen zueigenzumachen – wenn sie schon seine positiven Seiten nicht erreichen konnten: "Wollen wir sehen, ob ich diese nicht selber habe" – und nachdem sie sie bei sich gefunden haben, sagen sie: "Ich bin genauso genial wie Shakespeare". Sie untersuchen den Charakter von Schiller und suchen nach irgeneiner exzentrischen Eigenschaft; finden sie diese bei sich selbst, sagen sie: "Ich bin genauso wie Schiller". Wenn sie das Leben einer Reihe Berühmtheiten auf die Art und Weise untersucht haben, meinen sie: "Wir sind große Menschen". Ja, groß, aber nur im negativen Sinne; große Leute, die minus einen Groschen haben. Ich bevorzuge einen Menschen, der Null Groschen hat, weil er weder zurückzubekommen, noch etwa zurückzugeben hat. Der Pharisäer aber stellt den Vergleich an und sagt: "Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht wie der Andere, der Halsabschneider, bin". Gott sagt zu ihm: "Wenn ich dich an seiner Stelle eingesetzt hätte, was wärest du dann?" Einmal schaute ein Engel vom Himmel herunter, wie ein Mensch sündigte und sagte zu Gott: "Wie kannst du dieses niedrige Wesen dulden? Wäre ich an Deiner Stelle, würde ich diesen Dreck von der Erde beseitigen". Gott hat den Engel zur Erde abkommandiert und ließ ihn sich in einen Menschen verwandeln, dabei versetzte er ihn in dieselbe Situation; der Engel sündigte doppelt so viel wie jener Mann, den er vorher verurteilt hatte. So darf man auch nicht die Menschen wegen ihrer Taten von der Positionen aus, wo man selbst ist, verurteilen, weil man an ihrer Stelle genau dieselben Taten begangen hätte. Viele von denen, die zu mir kommen, fangen ihre Erzählung mit den folgenden Worten an: "Wir sind keine so schlechten Menschen, wir sind gut erzogen, weil wir aus einem angesehenen Geschlecht kommen". – Ich bezweifle ja eure Worte nicht, tief in meiner Seele glaube ich das, was ihr mir erzählt; wir stammen alle aus einem angesehenen Geschlecht, ich bin auch dieser Meinung. Aber eure und meine Ahnen und Urahnen sind nicht so edel gewesen, wie ihr und ich es denken; viele von ihnen sind große Tunichtgute, Verbrecher, Übeltäter und unverbesserliche Schufte gewesen; das über sie von Gott ausgestellte Führungszeugnis tragen wir – ihr und ich – als äußeres Gewand. Von außen her mögen die Dinge eine gewisse Wohlgefälligkeit haben, von innen her aber fehlt ihnen der entsprechende Inhalt. Daß unsere Ahnen und Urahnen gar nicht so rein gewesen sind, zeigen die schlechten Charakterzüge, die wir von ihnen ererbt haben und die wir mindestens zweimal am Tag zeigen. Wenn dein Großvater und deine Großmutter, dein Vater und deine Mutter rein und gutherzig wie Engel gewesen sind, woher kommen diese Eigenschaften und diese schlechten Taten in dein Leben? Wenn ihr in eine bestimmte Flüssigkeit ein bißchen Bitterkeit oder Gift bringt, wird sich dies bemerkbar machen und sich äußern; es wird zu erkennen sein, daß im Guten auch etwas Schlechtes eingemischt ist".
So können wir die Menschen, die die Philosophie dieses Pharisäers haben, konservativ nennen und als zur konservativen Partei gehörend betrachten. Das sind Menschen, die eine hohe Meinung von sich haben. Es ist nicht schlecht, eine hohe Meinung von sich zu haben, wenn diese berechtigt ist und keinen bitteren Beigeschmack enthält. Der größte Konservator und Regulator in der Natur ist der Stickstoff, der jede Brennung aufhält und jedes Leben erstickt. Der Stickstoff ist das älteste, das ausgeglichenste Element in der Natur. Aber, wäre die Natur nur mit diesem Element geblieben, wäre alles tot. Trotz alledem hat die organische Welt ihm viel zu verdanken...
Der Pharisäer wendet sich an Gott nicht, damit Er ihm hilft, einige Unebenheiten seines Charakters zu glätten, nicht im geringsten, er bedankt sich nur, daß er nicht wie die anderen Menschen sei: Schmäher, Räuber, Mörder, Ehebrecher. Gerade als Schriftgelehrter und Philosoph sollte er sich mit den Sachen beschäftigen, die die Schmähung, die Räuberei, den Mord, den Ehebruch verursachen. Wenn wir manchen Leuten begegnen, die, sagen wir, niedriger stehen als wir, dürfen wir sie der Lehre Christi nach in unserer Seele nicht verurteilen, sondern daraus eine Lehre ziehen, nach den Ursachen suchen, die diese Leute so tief haben sinken lassen, und falls etwas davon auch bei uns zu finden ist, dieses restlos zu beseitigen. Weil Derjenige, Der die großen Gesetze ins Leben gerufen hat, sagt: "Richtet nicht über Andere, um selbst nicht gerichtet zu werden". In diesen Worten ist ein tiefer Sinn enthalten und derjenige, der ihn begriffen hat, hat das große Gesetz des menschlichen Wohls erreicht. Die heutigen Zoologen erforschen die Tiere und haben für die Welt viele wertvolle Arbeiten geleistet, keiner von ihnen aber hat bis jetzt die tiefliegenden Gründe aufgedeckt, die die Tiere haben entstehen lassen; warum besitzen zum Beispiel manche Tiere Hörner, andere dagegen nicht; warum kriechen manche, andere gehen aber auf vier Beinen; warum fressen einige Fleisch, andere dagegen weiden Gras; warum fehlt ihnen die menschliche Intelligenz. Dafür gibt es auch tiefliegende und prinzipielle Ursachen, es ist nicht so willkürlich, wie sich jemand denken könnte. Wenn die Menschen diese grundsätzlichen Ursachen begreifen, werden sie zu dieser vernünftigen Philosophie kommen, auf der die zukünftige Gesellschaftsordnung aufgebaut werden sollte – "die Morgenröte der neuen Zivilisation". Die ganze zeitgenössische Philosophie beruht auf den Ansichten des Pharisäers – sie ist eine Pharisäerzivilisation. Diese Zivilisation, bei der sich die Menschen nach der Form, dem Äußeren, der Etikette unterscheiden, ist in der weitentfernten Vergangenheit Ägyptens, Indiens, Babels, Chinas, Persiens, Judäas, Griechenlands, Roms entstanden. Sie ist auch heutzutage in Europa in einem schönen christlichen Umhang gekleidet. Ich will nicht sagen, daß sie in ihren Grundsätzen etwas Schlimmes ist, ich meine aber, daß die Form immer mit einem gewissen Inhalt gefüllt werden sollte; sonst bleibt die Form nur eine einfache Hülle, in der nur Parasiten leben können. Man sagt: "Er hat wunderbare Augen". Na und? "Sie sind schön". Worin besteht ihre Schönheit? "Nun sie glänzen, angenehm sind sie". Warum sind sie denn so angenehm? Irgendjemand soll eine schöne, anständige Nase haben. Worin besteht diese Schönheit? Die Lippen wären schön, wohlgeformt. In welcher Hinsicht? Die Menschen haben eben eine gewisse Vorstellung über bestimmte Dinge, die man so genau nicht ausdrücken kann, daß in den schwarzen Augen oder in den blauen, oder in den aschgrauen, oder in den grünlichen, oder etwa in den braunen, bestimmte verborgene Kräfte vorhanden sind. Wenn ein Mensch mit schwarzen Augen um sich schaut, wird er bei den anderen einen gewissen Gedanken hervorrufen; wenn einer mit braunen Augen schaut – eine gewisse Stimmung usw. Menschen, die blaue Augen haben, sind kühl. Sie sind einem Himmel gleich, der wolkenfrei, aber kühl und kalt ist. Solche Menschen sind nicht für die Erde. In ihnen ist Glaube, sie sind aber vorzeitig zur Welt gekommen. Das sind vielleicht die Menschen, die von jetzt an kommen werden. Ich spreche von jenen blauen Augen, die ein Ausdruck des Himmels sind. Der Überlieferung zufolge soll Christus solche Augen gehabt haben. Man sagt über jemanden: "Seine Lippen sind schön wie eine Rose". Was sind die Lippen? Sie sind ein Ausdruck des menschlichen Herzens. Sie zeigen, ob der Mensch ein weiches oder ein hartes Herz hat, sie zeigen inwieweit er intensiv lebt und offen ist. Es wird euch auffallen, daß bei denjenigen, die einen guten Appetit haben, die Lippen ziemlich dick sind. Das ist ein physiologisches Gesetz. Etwas mehr Blut kommt da herein, deswegen sind sie sowohl etwas dick als auch rot. Wenn sie das Essen schmecken, sagen sie: "Ha, das ist angenehm" und auf ihrem Gesicht erstrahlt ein feines, kaum wahrnehmbares Lächeln; es kündigt an, daß in ihrer Seele diese Stimmung weilt. Wenn wir einen Menschen mit einer schönen Nase als Beispiel nehmen, so ist die Nase ein Ausdruck der menschlichen Intelligenz und Vernunft; hinter der Tatsache, daß die Nase gerade ist oder aber einen Haken hat, daß sie römisch oder griechisch ist, verbirgt sich ein tiefer Sinn. Wie das Gesicht aussieht, ist nicht ohne Bedeutung, dabei drückt sich in ihm das äußerliche Leben des Menschen aus. Wenn wir uns ganz genau ein Menschengesicht ansehen und dabei feststellen, daß es keine Symmetrie bei ihm gibt, daß die eine Augenbraue nicht wie die andere aussieht, die eine etwas mehr entwickelt, die andere dagegen hervorragt, so daß eine Asymmetrie entsteht, so zeugt dies von einer gewissen inneren Unausgeglichenheit dieses Menschen. Wenn ihr eine Gerade zieht, könntet ihr überprüfen, ob eure Nase auf ihrem Platz ist. Die Nase stellt ein Barometer dar, oder aber einen Wärmemesser, der angibt, in welchem Zustand sich euer Verstand befindet. Wenn die Maschinisten eine Maschine bedienen, lesen sie ab, was für einen Luftdruck der Luftdruckmesser im Kessel zeigt – diesem Wert gemäß geben sie mehr Kohle zur Vermehrung des Dampfes hinzu oder, falls zuviel vorhanden ist, lassen sie den überflüssigen Dampf heraus. Habt ihr irgendwann mal Halt gemacht, um euch die Mühe zu geben, nachzuschauen wie die Maschinisten dies tun, in welchem Zustand sich euer Dampf – euer Herz – befindet? Gott hat euch aus diesem Grund die Nase gegeben. Geht zum Spiegel, befragt euren Verstand und er wird euch sagen, in welchem Zustand das Herz ist. In welchem Zustand sich eure Seele befindet, kann man erfahren, indem man in die Augen schaut. Das einzige, das nie lügen und heucheln kann, sind die Augen. Deshalb, will man irgendwann lügen, macht man die Augen zu oder legt man die Hand auf die Augen. Dem Kind ist bewußt, daß die Mutter seine Lüge erkennen wird, wenn sie es ansieht, deshalb legt es die Hand auf seine Augen.
Während der Pharisäer betete, sah ihm Christus zu und sagte ihm: "Deine Seele ist getrübt, deine Vorahnen haben nicht ein so reines Leben geführt wie du dir einbildest. Du denkst, daß du nicht wie die anderen Menschen bist, aber in deiner Vergangenheit warst du wie sie und auch jetzt bist du nicht weit von ihrem Niveau entfernt". Wie auch immer wir diese Tatsache erklären wollen, etwa nach der Lehre der indischen Philosophen über die Reinkarnation, oder nach der Lehre der ägyptischen Weisen über die Transmigration, oder aber nach der Lehre der Kabbalisten und Okkultisten über die Emanation (das Ausfließen) und die Vervollkommnung des Geistes, oder aber schließlich nach der modernen Vererbungslehre – all dies ist irrelevant. Diese Lehren und Theorien sind für uns nur Hilfsmittel, um uns einige Dinge besser erklären zu können, so daß die Erscheinungen des menschlichen Lebens eindeutiger und verständlicher für uns werden. Aber das Grundprinzip, das, was dem Wesen aller Dinge eigen ist, bleibt ein und dasselbe, egal auf welche Art und Weise wir auch seine Äußerungen erklären und auslegen. Das große Gesetz der Ursachen und der Folgen, der Taten und ihrer Vergeltung lügt nie, es spricht immer die absolute Wahrheit. Wenn du gut bist, so steht im Buch des Lebens, daß du gut bist; wenn du böse bist, so steht dort, daß du böse bist. Wenn du die Wahrheit sagst, so steht im Buch des Lebens, daß du die Wahrheit gesagt hast; wenn du lügst, so steht auch da, daß du gelogen hast. Wenn du deinem Nächsten hilfst, für dein Volk Opfer bringst, für das Wohl der Menschheit arbeitest, Gott aus Liebe dienst, so steht das alles im Buch des Lebens geschrieben; wenn du deine Nächsten vergewaltigst, dein Volk verrätst, der Entwicklung der Menschheit Hindernisse in den Weg legst, Gott untreu wirst – so steht das alles auch in demselben Buch. Er schreibt gnadenlos seine Aussagen über die menschlichen Taten: auf der Stirn, auf der Nase, auf dem Mund, auf dem Gesicht, auf dem Kopf, auf den Händen, auf den Fingern und auf allen anderen Körperteilen – jeder Knochen ist ein Zeugnis für oder gegen uns. In dieser Geschichte des menschlichen Lebens lesen wir jeden Tag. Auf den ersten Seiten ist das Leben aller unserer Urahnen festgehalten: über einige von ihnen steht da, daß sie schreckenerregende Verbrecher, Diebe und Räuber gewesen sind. Wenn wir ihre Seiten aufschlagen und die Linie verfolgen, von der Abraham, Isaak, Jakob, David, Salomon und viele andere stammen, können wir dort den vollständigen Abdruck ihrer Taten finden. Über Abraham finden wir dort, daß er ein Mensch der Wahrheit, sehr klug, großherzig, starken Glaubens, erhabenen Geistes war, der die tiefe Weisheit der Göttlichen Anordnungen über die große Zukunft der Menschheit kannte. Über Jakob finden wir, daß er ursprünglich ein heuchlerischer Mensch gewesen ist, listig, ein Egoist, dem es mit Lüge und Schwindel gelang, seinem Bruder das Erstgeborenenrecht wegzunehmen, und der erst mit fast dreiunddreißig Jahren eine innere Wandlung erfuhr, nachdem er seinem Onkel Laban vierzehn Jahre lang wegen seiner beiden Töchter gedient hatte – gerade dann geschah seine innere Wandlung zum Guten. Über David wissen wir, daß er ein Mensch von Tapferkeit, Entschlossenheit und einem ausgezeichneten natürlichen und poetischen Verstand war, allerdings mit einer besonderen Schwäche für schöne Frauen. Durch eine List nahm er sich die Frau von Uria und von diesem Tag an begannen seine harten Prüfungen. Der kühne Prophet Nathan hat auch nicht gezögert, ihn direkt in seiner Gegenwart bloßzustellen und ihm die negativen Folgen vorzuführen, die dieses Gesetz über ihn in sein Buch eintragen wird als Mahnung für die künftige Nachkommenschaft. Über Salomon erzählte man, daß er einen ausgezeichneten philosophischen Verstand habe, daß sein Herz zwar gut, aber gleichzeitig auch verdorben sei; ihm sagte man außerordentlich starke Gefühle und Leidenschaften wie auch eine übermäßige Ruhmsucht und einen schwachen Willen nach; er führte ein ausgesprochen epikureisches Leben, was die leiblichen Genüsse wie Essen, Trinken und Vergnügungen mit Frauen anbelangte. Christus weiß all das. Er weiß auch, wie Sein Geschlecht gelebt hat und wenn die Menschen zu Ihm sagten: "Guter Lehrer", wand er immer ein: "Warum nennt ihr Mich gut? – Gut ist nur der alleinige Gott". Er wollte damit sagen: "Das Geschlecht, dem Ich entstamme, ist nicht so edel, wie ihr euch denkt. Weil Gott ein anderes Maß hat, das ihr nicht in Erwägung zieht. Er fordert eine absolute Reinheit in jeder Hinsicht. Viele aus dieser Familie haben nicht das Leben gelebt, das dem wahren Gott recht war, dessen Willen Ich erfülle". Deswegen richtet Er auch Seine Worte an den Pharisäer: "Du belügst sowohl dich selbst, als auch die Leute und Gott: viele deiner Urahnen haben Verbrechen begangen, daher hast du kein Recht zu sagen: "Ich bin nicht wie sie. Und weil keine Demut in deiner Seele ist, kann dein Gebet auch nicht angenommen werden und du kannst nicht freigesprochen werden. Ihr Pharisäer habt das Gesetz Gottes verdreht, indem ihr Ihm den Umhang der Heuchelei angezogen habt. Hört auf, euch für solche auszugeben, die ihr nicht seid, denn Gott ist kein Mensch, der sich von eurem Äußeren irreführen lassen würde. Er schaut in euer Herz und danach schätzt Er euch auch ein".
Nun möchte ich mich des anderen Typs – des Zöllners – annehmen. Da haben wir mit einem Menschen mittlerer Größe zu tun – ziemlich füllig, mit ziemlich kurzen Beinen und dicken Armen; die Finger sind auch ziemlich dick und zugespitzt, das Gesicht ist rund; sein Verdauungssystem ist hervorragend entwickelt – er ißt für sein Leben gerne und trinkt auch gerne einen. "Ich habe einen langen Weg vor mir, ich muß bei mir etwas zu Essen haben" – so philosophiert er herum und wird deswegen Zöllner: bald wird er etwas erbetteln, bald sich etwas holen oder gar stehlen, so daß er seinen Beutel immer voll kriegt. "Du tust dasselbe wie ich, aber entschuldige, auch wenn du es für einen Diebstahl hältst, ich kann es gut gebrauchen. Du willst es mir nicht geben, dann werde ich es mir mit Gewalt holen oder es stehlen". Ich habe gesagt, der Zöllner hat ein ziemlich rundes Gesicht, dicke Augenbrauen und das Kinn ist unten breit – was er sich auch vornimmt, bringt er es zu einem erfolgreichen Ende. Er ist zwischen 40 und 45 Jahre alt. Sein Bart ist schwarz und zottelig, sein Schnurrbart – genauso, was von einer großen Hitze zeugt; seine Nase ist wohlentwickelt, sehr kurz, fleischig, breit in ihren Flügeln – ein Zeichen gut entwickelten Atmungssystems; er ist ein Gefühlsmensch, impulsiv, einem Kind gleich, er kann jederzeit seine Freude ausdrücken; wenn er sich einen halben Liter Wein reingezogen hat, kann er springen und sich freuen. Wird er aber wieder nüchtern, fängt er an zu weinen, daß seine Frau krank sei. Die Schläfen sind bei ihm sehr stark entwickelt, die Ohren sind ziemlich groß, fast wie bei Tolstoj, wie bei einem, der stiehlt, der nimmt und gleichzeitig gibt – "Vater und Mutter stahlen, so möchte ich wenigstens geben, andere begünstigen – möge dann Gott uns die Sünden vergeben". Er hat Augen, die braun oder wie der dunkle Wein sind – ein Zeichen von natürlicher Weichheit und Gutmütigkeit, die nur auf ihre Zeit warten, um in Erscheinung zu treten. Der Kopf ist gleichmäßig entwickelt wie der Kopf von Sokrates. Er hat einen ausgezeichnet entwickelten Sinn für die Familie und die Gesellschaft; seine religiösen Gefühle sind stark, seine Barmherzigkeit – groß; er versteht das Leben richtig, sein Verstand ist ausgezeichnet und jeglicher Sophistik fern. Er hat ein stark entwickeltes Gewissen, das ihm seine Fehler zeigt und er hat keinesfalls Hemmungen, über diese bei Gott wie auch bei den Menschen und bei sich selbst zu beichten. Seinen eigenen Edelmut sieht er ohne Gespreiztheit an. Er ist religiös, aber er hat die Gestalt des Guten Gottes und nicht seine eigene in diese Religion eingebracht. Er ist immer fest davon überzeugt, daß der Gute Herr ihn zum Licht verhelfen wird. Er hat mehr Glaube an Ihn, als an sich selbst. Seine Philosophie ist richtig: Er vergleicht sich nicht mit den ihm unterlegenen Dieben und Schuften, sondern er sagt: "Gott, wenn ich Dich, die Engel, die Heiligen sehe, komme ich mir so klein vor. Ich muß mich erheben, ich muß wie Du werden. Ein Sünder bin ich; meine Ahnen, meine Urahnen, und ich, wir sind keine richtigen Menschen geworden; ich esse, ich trinke, bin aber wie ein Schwein geworden; vergib mir, daß ich nicht die Güter nützen kann, die Du mir gegeben hast". Und was sagt Christus? Der Mensch, der sich seiner Fehler bewußt ist, hat ein erhabenes Ideal, eines Tages wird er den Pharisäer überholen. Wie kommt das? Die Reichen verlassen sich nur auf ihre Renten oder Einkommen, tun nichts, sie reden nur über Politik und Weltgeschichte. Die anderen aber, die morgens früh aufstehen, 10 Stunden täglich arbeiten, einen Mißerfolg nach dem anderen erleben müssen, aber beständig sind und Erkenntnisse erwerben, werden berühmte Leute.
Auch unter uns, entschuldigt mich, gibt es nun die beiden Typen. Aber, weil Christus die beiden Gegenpole vorführt, so sage ich euch, nehmt das Gute von dem einen wie von dem anderen und schafft gleichzeitig den erhabenen Pharisäer- und Zöllnercharakter, schafft den dritten Typ von einem Christen, den Typ des neuen Menschen. Das meine ich damit. "Habe ich denn so viel in meinem Leben gesündigt? Wie kann ich ein Pharisäer sein? Du beleidigst mich", sagt ihr. Ich will euch eine Wahrheit sagen. Wenn ein Unglück im Leben geschieht, sagt ihr: "Warum, oh Gott, dieses Unglück? Es gibt andere, die größere Sünder sind als ich". Seid ihr dann etwa nicht an der Stelle des Pharisäers – des Menschen, der mit Gott streitet? Gott wird euch sagen: "Du bist ein gerechter Mensch, aber weißt du, wieviel Unfug deine Ahnen angestellt haben, an denen du auch einmal teilgehabt hast? Hier hast du einen Wechsel, der vor so viel Jahren unterschrieben worden ist, du mußt ihn begleichen". "Aber ich erinnere mich nicht daran". – "Das macht nichts. In Meinem Buch ist er angegeben. Es lügt nicht." Kommt ein Unglück auf euch zu und ihr bedankt euch dafür mit den Worten: "Es ist gering", so seid ihr an der Stelle des Zöllners. Auch Christus wird euch sagen: "Ihr werdet in das Haus Meines Vaters gehen". Ihr verurteilt manchmal die Pharisäer: "Sie sind keine aufrichtigen Menschen", ihr wißt aber nicht, daß ihr, die die Pharisäer verurteilt, die Pharisäer von heute seid? Zieht für euch eine Lehre aus dem Charakter dieses Pharisäers, damit ihr nicht seine schlechten Eigenschaften erlangt, oder aber, falls ihr sie schon habt, diese beseitigt und nicht den Weg des negativen Lebens geht. Das, was euer Großvater, eure Großmutter, euer Vater, eure Mutter hatten, wird euch nichts nützen. Ihr kennt die Geschichte über die Gänse, die von irgend jemandem in die Stadt getrieben wurden. Die Gänse sagten zum Wanderer: "Wie unverschämt von diesem Herrn! Er treibt uns so, als wären wir ein Schwarm, er weiß wohl nicht, daß unsere Urahnen einmal Rom befreit haben". – "Und ihr, was habt ihr getan?", fragte der Wanderer. – "Nichts". – "Dann seid ihr dessen würdig, in einem Topf gekocht zu werden". Euer Großvater, euer Vater, seien sie auch so große, erhabene Leute gewesen, was hat das für euch zu bedeuten? – Was seid ihr selbst? Angenommen, du hast keinen edlen Charakter – dann sollst du ihn erlangen. Mag sein, daß dein Großvater, dein Vater ein gewisses Kapital hinterlassen haben, es kann aber vorkommen, daß du es verspielst oder verlierst.
Auch in bezug auf die Religion gibt es Pharisäer: "Ich gehöre zu der orthodoxen Kirche", "Ich – zu der evangelischen Kirche", "Ich gehöre zu der katholischen Kirche", "Ich bin ein Freidenker". – "Ich freue mich darüber, daß du orthodox, daß du evangelisch, daß du katholisch, daß du freidenkend bist, hast du aber die edlen Eigenschaften von Jesus?" – "Ich habe sie nicht". – "Du bist nicht orthodox, du bist weder evangelisch noch sonst was. Erlange sie, um einer von ihnen zu werden". – "Ich bin aber freidenkend". – "Hast du die erhabenen Eigenschaften der ehrlichen freidenkenden Menschen? Unter 'freidenkend' verstehe ich einen Menschen, der mit der Wahrheit befreundet ist. Wenn du es nicht bist, so bist du ein erstklassiger Lügner". Die Leute sagen oft: "Du bist ein prima Mensch". Die Menschen von heute, wenn sie zu zweit oder zu dritt sind, fangen an, sich mit Edelmut und Auszeichnungen zu rühmen: "Deinen Aufsatz haben wir gelesen und wir sind begeistert". Wenn dieser die Gesellschaft verläßt, beginnen sie zu lästern: "Er ist ein erstklassiger Dummkopf". Wenn der Zweite geht, fangen sie dasselbe über ihn zu erzählen. Geht der Dritte, so lästern sie weiter, wie dieser sei. Wenn ein einziger zurückgeblieben ist, wird er selbstverständlich nicht loslegen und etwas Schlimmes über sich erzählen. Laßt euch nicht darüber täuschen, was die Leute über euch sagen, denn sie können sehr unangenehme Sachen erzählen. Keiner spricht die Wahrheit. Einige unter euren Feinden werden sagen: "Du bist ein Schuft, ein Lügner und ein Taugenichts" – sie sagen eher die Wahrheit als derjenige, der euch schmeichelt: "Du bist ein edler Mensch". Mag sein, daß du ein guter Mensch bist, so gut bist du aber auch wieder nicht; denk nicht, daß du ausgezeichnet bist. Manchmal stolzierst du aufrecht, schwenkst mit den Armen und dem Stock, als hättest du wie Archimedes eine große Aufgabe gelöst. Du meinst, es gäbe keinen anderen Menschen, der so wie du wäre; wenn du ein Zöllner bist, sagst du zu dir: "Ich werde die Welt regieren". Christus sagt: "Hör mal zu, vor Jahren haben deine Ahnen und Urahnen regiert und ich erinnere mich, daß in meinem Notizbuch steht – sie haben Verbrechen begangen; kann sein, daß auch du einmal auf diesen Weg gerätst, sei nicht so selbstsicher". Deshalb, in welcher Situation wir uns auch befinden, wir müssen nur Gott den Herrn als Ideal vor unseren Augen haben. Auf dieser Welt werden wir mit vielen bitteren Angelegenheiten konfrontiert. Kann sein, daß wir einem Freund begegnen, der uns gern hat und uns einige Dinge sagt, die richtig sind; ich behaupte nicht, daß wir andauernd den Verdacht haben müßten, alle Menschen wären Lügner, nein, aber werdet ihr von 100 Menschen gelobt, kann es sein, daß euch nur drei die Wahrheit gesagt haben, die anderen werden euch die Wahrheit entweder sehr grob oder auf eine sehr schmeichelnde Art und Weise sagen – da haben wir es eigentlich mit zwei extremen Handlungsweisen zu tun. Die Wahrheit ist also nicht dort zu suchen, sondern auf dem besagten mittleren Weg – indem ihr nämlich die guten Eigenschaften des Pharisäers annehmt, seinen ausgezeichneten Verstand, die Ansichten und den Ordnungssinn, und von dem Zöllner – seine Barmherzigkeit, die tiefe Religiösität, die innere bewußte Erkennung eigener Fehler und das Bestreben, sein Leben zu verbessern. Auch in den einzelnen Familien gibt es die beiden – den Pharisäer und den Zöllner: der Mann ist der Pharisäer, die Frau ist der Zöllner. Der Mann ist von einer hohen Abstammung, reich, schlank, schön – ein edler Mensch, wie man so einen zu nennen pflegt, die Frau dagegen entstammt einer einfachen Familie, ihr Vater und ihr Großvater sind keine gebildeten Leute gewesen, also Tölpel; sobald er sie anschaut, sagt er: "Weißt du noch, aus welchen Verhältnissen ich dich herausgeholt habe?", worauf sie sich ein bißchen duckt. Es bleibt ihr auch nichts anderes übrig – sie duckt sich und bereitet das Essen zu: der Pharisäer braucht nur mit dem Zeigefinger deutlich zu machen, daß sie das Essen nicht schmackhaft genug zubereitet hat – "solch eine einfache, ungezogene Frau will ich nicht haben" – und sie muß weinen und gehorchen. "Einen solchen Zöllner will ich in meinem Haus nicht haben". Anderswo ist die Frau ein Pharisäer und der Mann ein Zöllner. Sie kommt aus einer reichen Familie, ihr Vater hat dem Mann, der bei ihm als Lehrling angefangen hat, nach oben verholfen. "Weißt du nicht, daß ich dir mit der Heirat eine Wohltat erwiesen habe, und du kannst dich nicht einmal anziehen, deine Krawatte umbinden, deine Nase putzen". Schreckliche Formalisten sind diese Pharisäer, wenn sie anfangen, aufzuzählen. Nun haben die beiden, der eine wie der andere, ihr Leben zu verbessern. Wenn Christus sagt, daß eher dem Zöllner rechtzugeben wäre als dem Pharisäer, will Er zum Ausdruck bringen, daß auch der Zöllner nicht ganz recht hat, aber in seinen Ansichten über das Leben und über die Göttliche Ordnung mehr Positives ist als in denen des Pharisäers. Er will damit sagen, daß eines Tages dieser Zöllner viel höher stehen wird als der Pharisäer. Wenn ihr nicht geneigt seid, Demut zu zeigen, so wird Gott euch zur Demut veranlassen, denn Er läßt die Stolzen demütig werden und die Demütigen erhebt Er. Stolz und Demut sind Synonyme für Pharisäer und Zöllner. Ihr wißt nicht, was mit euch in Zukunft passieren kann: alle eure edlen Eigenschaften und alle eure Ahnen und Urahnen können euch nicht retten. Vor Jahren, ich glaube in London, hat sich folgendes ereignet: einer der reichsten und angesehnsten Engländer stieg in seine unterirdischen Schatzkammern herunter, um sich seiner Schätze zu erfreuen, zufälligerweise aber machte er die Tür hinter sich zu, der Schlüssel blieb aber von außen stecken. Nachdem er sich sein ganzes Vermögen angesehen und sich dessen erfreut hatte, wollte er hinaus, sah sich jedoch eingeschlossen. Er verweilte dort einen Tag, zwei Tage, drei Tage lang, um ihn herum lag Gold, ein riesiges Vermögen, er aber konnte weder hinaus noch auf sich aufmerksam machen. Letzten Endes mußte ihn seine Seele an diesem Ort verlassen. Bevor er starb, schrieb er den folgenden Zettel: "Wenn jemand mir nur ein Stück Brot hätte geben können, so hätte ich ihm die Hälfte meines Vermögens gegeben". Kommt es eines Tages zufälligerweise vor, daß ihr eingeschlossen werdet wie dieser reiche Mann, in den unterirdischen Räumen eurer edlen Ahnen und Urahnen, könnte euch ein kleines Stück Brot retten. Deshalb sagt Christus: "Das Brot kann euch retten, nicht diese Dinge, um die ihr kämpft". Und wißt ihr, daß viele Menschen so sterben, in sich selbst eingeschlossen. Die Menschen begehen verzweifelt Selbstmord. Und wer begeht Selbstmord? Zöllner begehen keinen Selbstmord, es sind immer Pharisäer, die es tun. Poeten, Maler und Staatsmänner sagen: "Die Welt konnte uns nicht richtig schätzen, sie konnte unsere Bücher nicht richtig verstehen – unsere Werke, Gemälde" – und sie begehen Selbstmord. Immer wieder diese Pharisäer, diese erhaben Denkenden, mit den gleichmäßig geformten Gesichtern und dem rothaarigen Bart, nur die bringen sich überhaupt um. Die Pharisäer in Bulgarien haben keinen rothaarigen Bart; die Rede ist von den jüdischen Pharisäern, sie beschreibe ich; die unsrigen hätte ich anders beschrieben. Die bulgarischen sind ihnen auch ähnlich, sie unterscheiden sich jedoch in einem. Weil ich aber nicht von den bulgarischen, sondern von den jüdischen Pharisäern rede, so könnt ihr über die bulgarischen schließen und diese Typen identifizieren. Wie könnt ihr nach ihnen suchen? Mein Vortrag ist deswegen da, damit ihr ihn in eurem Leben praktisch anwendet.
Die modernen Menschen lehren, daß man, um einen Erfolg zu haben, einen starken Willen benötigt. Der Wille kann sich auf drei Arten äußern – es kann sich um 1) eine Willkür, 2) einen Willen, der nur unsere eigenen Interessen, nur die Interessen unseres Volkes, berücksichtigt und 3) einen Willen, der die Interessen unserer Gesellschaft und unseres Volkes genauso wie die des Menschen und die Gottes berücksichtigt, handeln. Die letztgenannte, in sich alle Vepflichtungen, die wir dieser Welt gegenüber haben, vereinigende Willensart, stellt einen so starken Willen dar, daß es keine Macht gibt, die uns von unserer Pflicht abwenden kann – es ist ein guter Wille. Es ist der Wille zur Arbeit für den Ruhm Gottes und der Menschheit, für das eigene Volk, für die Familie und für die Erhebung des eigenen Charakters – das heißt Wille. Manche sagen: "Du mußt einen edlen Verstand haben". Ein Verstand, der seine Beziehung zu Gott begreift, ein Verstand, der damit befaßt ist, erhabene Gedanken im Leben anzuwenden – das ist ein edler Verstand. Ihr habt alle Veranlagungen dazu. "Meine Nase aber ist nicht gerade das, was ich mir als Nase wünsche". Sie wird sich entwickeln. Schaut euch jene kleinen Küklein in den Nestern an, die noch keine Federn haben, wie sie auf ihre Mutter warten, und wenn sie erscheint, machen sie den Mund auf; sie sagen dann "piep" und sieh da, ihre Mutter steckt ihnen ein Würmchen in den Mund. Und zwanzigmal am Tag kommt das "Piep!", zwanzigmal öffnen sie den Mund. Je mehr diese Kükchen durch "Piep!" bitten, um so mehr Würmchen landen in ihrem Mund. Dann wachsen auch ihnen kleine Flügel und letzten Endes fliegen sie weg. Demselben Gesetz sollt ihr auch folgen – euren Mund auftun, um zu beten. Macht ihr ihn nicht auf, seid ihr Pharisäer und Christus wird zu euch sagen: "Die Welt ist nicht für euch. Das Reich Gottes ist nicht für euch, die Zukunft ist nicht für euch". Das will Christus sagen. Es gibt Menschen, die ihren Mund nicht gerne aufmachen, sie schweigen nur. Daß man schweigen will, verstehe ich, aber wann ist das Schweigen angebracht? Wenn du wütend bist, wenn du auf dem Wege bist, einen anderen zu beleidigen, wenn du Neid empfindest; aber wenn du fröhlich bist, wenn du ein tröstendes Wort aussprechen sollst, mach den Mund auf und sag es. Macht ihr euren Mund auf, wenn ihr eure Kinder erziehen wollt? Das ist die Frage, die man euch stellen muß. Ihr erzieht eure Kinder wie die Pharisäer, sie dürfen das Geschirr nicht anfassen, sich nicht dreckig machen; nicht einmal sich die Hände naß machen dürfen sie: die Mutter wird es schon spülen. Der Vater wird ihnen neue Schuhe, eine Uhr, neue Kleidung kaufen. Der Vater muß zum Sklaven dieses Pharisäers werden. Wenn der Vater abends nach Hause kommt, machen sie ein finsteres Gesicht. "Wir wollen dies, wir wollen jenes haben, aber schnell!", und er zieht den Kopf zwischen die Schultern. Warum sagte Christus: "Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer"? Überall – auch bei uns zu Hause, bei unseren Kindern, in der Kirche – zeigen wir die Charakterzüge der Pharisäer und wundern uns noch, warum das Reich Gottes nicht kommt. Und obendrauf werden Vorwürfe laut: "So eine schlechte Welt, so eine schlechte Gesellschaft, die Priester taugen nicht besonders, die Lehrer sind schlecht, die Regierenden sind schlecht." – Und wie ist man selber? Ein Heiliger etwa? Auch du bist einer von denen, gegen die du deine Kritik richtest. Hör damit auf, denn deine Mutter ist bei dir: sobald du "piep" sagst, bekommst du prompt etwas zum Essen. Mag sein, daß euch diese Dinge lustig vorkommen, aber es handelt sich um große Wahrheiten – wir müssen aus diesem Beispiel eine Lehre ziehen. Im Vergleich zum himmlischen Leben sind wir arm und Gott schickt uns immer die Mutter mit diesen Würmern; gratuliere deiner Mutter, weil sie dir das Essen sichert. Wieviele Orte muß sie nun aufgesucht haben, um diesen Wurm zu finden! Wie können wir Gott danken dafür, daß Er jeden Tag an uns denkt und uns die Nahrung sichert? Jeden Morgen sollten wir auch "piep" sagen, ein Gebet an Ihn richten. Wißt ihr, was das bedeutet? Dahinter steckt ein tiefer Sinn. Was beinhaltet dieses "Piep"? Wäre es euch bekannt, so wüßtet ihr auch, wie die Worte lauten, mit denen der Himmel spricht. Es ist ein ganz kurzes Wort, aber sehr reich an Inhalt. Nun seid ihr im Tempel, Christus wendet sich an euch und stellt eine Frage: "Wie betet ihr – wie dieser Pharisäer oder etwa wie der Zöllner? Wie kommt ihr in die Welt und wie fangt ihr an zu arbeiten – wie der Pharisäer oder wie der Zöllner? Ihr seid aus derselben Erde gemacht worden". Christus will uns aber sagen, keine Pharisäer zu sein. Ich habe schon den Kopf voll von diesen Pharisäern. Wenn es etwas auf dieser Welt gibt, das Unruhe stiftet, so ist das der Pharisäer. "Dieser da hat aber die und die schlechten Eigenschaften". Ich weiß es, aber was kann ich dagegen tun. Warte, bis ich zunächst mich selbst gereinigt habe, dann sind die anderen Leute an der Reihe. Ich muß zuerst meine Läuse los werden, danach kann ich mich um die der Anderen kümmern. Weil, gehe ich zuerst zu einem Anderen, falls er weniger Läuse als ich hat, bekommt er sicherlich einen Teil von meinen Läusen mit. "Wir müssen ihn aber erziehen". Zuerst muß ich doch mich selbst erziehen. "Ihr müßt aber predigen". Wenn ich vorzeitig zu predigen beginne, könnte ich die Leute irreführen. "Gehe nach draußen und erzähle dieses oder jenes". Was soll ich erzählen? Soll ich den Leuten etwas vormachen? Wenn du dich vorne hinstellst, mußt du die große Wahrheit mit Worten und mit Beispielen aus dem eigenen Leben vertreten. Das meint auch Christus. Wenn wir zu lehren beginnen, müssen wir gleichzeitig mit Worten und aus unserer Lebenserfahrung heraus arbeiten. Ich finde einen großen Gefallen an jenen heutigen Lehrern, die ihren Unterricht sofort mit Experimenten beginnen: der Sauerstoff kommt zum Beispiel auf die und die Art und Weise zustande; jenes entsteht auf die und die Art und Weise usw. Angenommen wir gehen in die Tischlerei, der Lehrer vermittelt dort auch Theorie und Praxis zugleich. Schauen wir in der Schneiderei nach, finden wir dasselbe vor. Christus sagt zu den Christen: "Geht hinein und sucht euren Maßstab und eure Schere aus". Es gibt Leute, die zuerst mit der Nadel und danach mit der Schere beginnen sollen. Was ich unter "Schere" verstehe? Das ist eure Sprache. Wenn ihr zu schneiden und zu nähen anfangt, gibt es keine bessere Schere als eure Sprache. Fangt ihr dagegen hin und her ohne große Überlegung zu schnipseln an, habt ihr nicht die richtige Schere. "Dürfen wir etwa nicht reden?" Ihr dürft, aber wo es sich gehört. Denn, redet ihr, wenn dies fehl am Platze ist, schneidert ihr ohne zu überlegen und der Stoff wird nur vergeudet.
Ich sage dies alles nicht, um euch zu entmutigen. Ich will euch nicht sagen, daß ihr die geborenen Pharisäer seid, sondern, daß ihr die Veranlagung dazu habt. Alle haben sie. Und es ist gut, diese bis zu einem gewissen Grade zu besitzen. Fangt ihr aber zu sagen an: "Gott, ich danke Dir, daß ich nicht wie die anderen bin", wird der Pharisäer in euch lebendig und ihr könnt ihn sehr schwer loswerden. Er lebt im Nacken, im Scheitel, in den Ohren, im Kopf, in der Nase, in der Innenseite der Augen. Wo findet ihr diesen Pharisäer? – In all euren Eigenschaften und Äußerungen.
Und Christus fragt uns jetzt: "Welche ist die richtigste Art und Weise, unser Gebet an Gott zu richten?" Das Gebet versteht Er im weitesten Sinne des Wortes – als Nutzen zugunsten des Gesellschaftslebens. Manche sind der Meinung, daß man ein richtiges Gebet nur in der Kirche aussprechen könnte. Schaut mal genau hin, ob das Gebet, das ihr in der Kirche aussprecht, auch eine gewisse Beziehung zum Familienleben hat, ob es euch weiterhelfen kann? Und diese Kirche sollt ihr finden. Wo ist sie? Der Lehrer unterrichtet zunächst über verschiedene Elemente und dann läßt er die Schüler allein die Aufgabe lösen, allein hinter die Wirkungen eines bestimmten Gesetzes kommen. An einer Stelle in den Briefen steht folgendes: "Ihr seid ein Tempel Gottes". Wenn wir selbst Tempel Gottes sind, wie sollen wir unsere geheime kleine Kammer im Angesicht Gottes betreten? Betreten wir sie so wie der Pharisäer es tut, wird Christus zu uns sagen: "Ihr habt euer Ziel nicht erreicht". Wenn wir sie wie der Zöllner betreten und zu unseren Fehlern stehen und versprechen, diese zu beseitigen, wird uns gelingen, Christus Antwort zu bekommen: "Du bist freigesprochen, du hast eine Zukunft". Es kann vorkommen, daß der Lehrer im Schulheft des Schülers viele Fehler entdeckt, der Schüler darf nicht dabei sagen: "Wie kleinlich er ist – es handelt sich doch bloß um drei Fehler!" Es kann auch vorkommen, daß der Lehrer viele Stellen im Heft durchstreichen muß oder etwa 4-5 Wörter – darauf sagt der Schüler: "Er hat mir das Heft vollbeschmiert". Ja, wenn du vollkommen sein willst, muß du ihm eigentlich dankbar sein, daß er dich auf diese Fehler aufmerksam gemacht hat, weil aus drei können viel mehr Fehler werden. Berichtige die Fehler, laß sie nicht ohne weiteres stehen. Weil der Fehler mit einer Laus zu vergleichen ist: läßt du sie leben, so wirst du eine Woche später Tausende davon haben. Es ist schon viel wert, wenn man auch einen einzigen Fehler an den Pranger stellt. Infolge desselben Gesetzes ist es auch viel wert, wenn euch eine Tugend in den Himmel erheben und euch zu den Engeln zählen läßt. Schafft die Voraussetzungen dazu und ist eine Tat sündhaft, so wird diese euch nach unten ziehen, ist sie dagegen tugendhaft, so werdet ihr von dieser erhoben. Achtet folglich sowohl auf eine Tugend wie auch auf einen Fehler. Wenn bei einem Menschen, der ein lasterhaftes Leben geführt hat auch nur noch eine Tugend übrig geblieben ist, so ist diese jenes Seilchen, das in das stürmende Meer des Lebens heruntergelassen wird und welches, wird es ergriffen, einem das Land zu erreichen verhilft. Folglich ist der letzte übriggebliebene Fehler sehr gefährlich, weil er den Menschen zugrunderichten kann, genauso wie die letzte übriggebliebene Tugend so stark ist, daß sie ihn retten kann. Diese beiden sind es, die unser Leben ändern können. Das ist ein Gesetz. Deswegen sagt auch Christus: "Seid nicht nachlässig". Bei dem Pharisäer waren viel mehr edle Eigenschaften vorzufinden als beim Zöllner; in vielerlei Hinsicht stand er höher, er hatte jedoch einen einzigen Fehler noch – den Hochmut nämlich, der ihn in die Hölle herunterziehen konnte. Der Zöllner war ein großer Sünder, er hatte aber eine letzte Tugend – die Demut nämlich, und er sagte: "Ich werde an meiner Rettung arbeiten"; deswegen hat ihm auch Gott Seinen Segen gegeben, denn er hoffte, sich in Zukunft zu bessern. Ich frage euch am heutigen Morgen: Wo steht ihr – bei eurem letzten Fehler oder bei eurer letzten Tugend? Seid ihr bei eurem letzten Fehler, habe ich Mitleid mit euch – paßt auf euch auf, ihr habt eine gefährliche Stelle im Leben erreicht. Steht ihr aber mitten in eurer letzten Tugend, seid ihr an einem sicheren Ort und ich respektiere euch: ihr seid an einem sicheren Felsen, haltet euch an dieser übriggebliebenen Tugend fest und Christus wird euch begleiten.
(Gehalten am 5. Oktober 1914 in Sofia)
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